Antrag zur Feststellung einer außergewöhnlichen Notsituation nach § 18 b Landeshaushalts-ordnung (LHO) in Verbindung mit Art. 109 Abs. 3 S. 2, 2. Alternative GG

Antrag der Fraktionen von CDU und GRÜNE im Landtag

I. Ausgangslage

Der Deutsche Bundestag hat mit den Beschlüssen vom 3. Juni 2022 (BT-Drs. 20/2036) und 21. Oktober 2022 (BT-Drs. 20/4058) festgestellt, dass nicht nur aufgrund der Corona-Pande-mie, sondern vor allem durch die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges gegen die Uk­raine eine außergewöhnliche Notsituation besteht, die sich der Kontrolle des Staates entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt.

Dabei hat er insbesondere darauf verwiesen, dass sich die Lage durch die Einstellung der russischen Gaslieferungen verschärft hat und dass die zuletzt massiven Preissteigerungen bei Gas und in der Folge auch Strom eine erhebliche, teilweise existenzbedrohende Belastung für Bevölkerung, öffentliche Stellen und Institutionen der Daseinsvorsorge und Unternehmen in Deutschland darstellen.

Die derzeit dramatische Notsituation ist ausschließlich auf die aktuelle Krisensituation zurück­zuführen. Nordrhein-Westfalen stand bis zum Zeitpunkt des Beginns dieser Krisensituation wirtschaftlich und haushaltswirtschaftlich auf sehr solidem Fundament. Die Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts lag im 1. Halbjahr 2022 noch bei 2,5 %.

Die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine treffen Nordrhein-Westfa­len dabei härter als andere Bundesländer. Die Wirtschaftsstruktur des Landes ist durch viele Grundstoffindustrien geprägt, die besonders energieintensiv sind. Hierzu gehören insbeson­dere die Metallverarbeitende und die Chemische Industrie, die aufgrund der hohen Energie­kosten, die nicht unmittelbar und vollständig an die Endabnehmer weitergereicht werden kön­nen, erheblich unter Druck geraten sind, Verluste einfahren oder gar ihre Produktion ganz oder teilweise einstellen mussten.

Die Wachstumsschätzung des Ifo-Instituts für das 3. Quartal 2022 (Pressemitteilung des Ifo-Instituts, München, vom 02.11.2022) verdeutlicht die großen regionalen Unterschiede auf­grund der vorbezeichneten strukturellen Besonderheiten. Danach muss Nordrhein-Westfalen für das 3. Quartal 2022 einen Rückgang des BIP-Wachstums um 2,8 % hinnehmen, während der Bundesdurchschnitt immer noch bei einem Wachstum von +0,3 % liegt. Die besondere Situation im Land Nordrhein-Westfalen wird auch dadurch deutlich, dass die Industrieproduk­tion im dritten Quartal 2022 in Nordrhein-Westfalen von der Deutschen Bundesbank mit -4,6 % angegeben wurde, während im gesamtdeutschen Durchschnitt ein Zuwachs von +1,9 % zu verzeichnen gewesen ist.

Auch das RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung kommt mit einer eigenen Modellrech­nung zu dem Ergebnis, dass der wirtschaftliche Einbruch in Nordrhein-Westfalen mit einem BIP-Rückgang im 3. Quartal mit 0,5 % deutlich stärker ist als in den anderen Ländern.

Angesichts der Energiekrise beurteilten auch die Unternehmen in Nordrhein-Westfalen sowohl die aktuelle Lage als auch die Erwartungen schlechter. Der Stimmungsrückgang zieht sich durch sämtliche Branchen. Das zeigt die von der Deutschen Bundesbank ermittelte Stim­mungstendenz in Nordrhein-Westfalen im Vergleich zum Bund. Danach verläuft diese schon seit einem Jahr deutlich ungünstiger als der Bundesdurchschnitt. Es ist mit Blick auf die weitere Entwicklung nicht zu erwarten, dass kurzfristig eine Verbesserung stattfindet. Da die Stim­mungstendenz im Vergleich zum Bundesschnitt deutlich schlechter verläuft, wird das BIP in Nordrhein-Westfalen 2022 und 2023 deutlich stärker sinken als in anderen Ländern.

Auch der Konjunkturbericht der IHK Nordrhein-Westfalen sieht die nordrhein-westfälische Wirt­schaft vor einem schweren Winter stehen (Konjunkturbericht IHK Nordrhein-Westfalen, Herbst 2022). Der KfW-Konjunkturkompass (25.11.2022) sieht Deutschland in eine Rezession rut­schen und erwartet, dass das BIP in 2023 um 1,0 % schrumpfen wird (Vorprognose -0,3 %): „Sehr pessimistisch sind die vorausschauenden Komponenten in den Unternehmensbefragun­gen, wie z.B. die Geschäftserwartungen im KfW-ifo-Mittelstandsbarometer. Sie liegen in bei­den Unternehmensklassen so niedrig wie in der Vergangenheit nur vor den großen Rezessio­nen.“

Die Entwicklungen im Ukraine-Krieg und die zerstörerischen Angriffen Russlands auf die Inf­rastruktur der Ukraine lassen zudem befürchten, dass die Fluchtbewegung aus der Ukraine wieder zunehmen wird.

Diese dargestellten Entwicklungen sind zudem in dem Kontext zu sehen, dass die Folgen der weltweiten Corona-Pandemie weiterhin zu spüren sind und die Klimakrise weitere Verwerfun­gen birgt. Diese Auswirkungen belasten die Bürger, die Wirtschaft und den Staat weiterhin. Somit haben wir es mit der Bewältigung einer multiplen Krisensituation zu tun.

Insgesamt liegen daher in Folge des russischen Angriffskriegs existenzbedrohende Belastun­gen für Bürger und Unternehmen sowie ein massiver Einbruch der Wirtschaft, also eine plötzli­che Beeinträchtigung der Wirtschaftsabläufe in einem extremen Ausmaß aufgrund eines exo­genen Schocks vor. Da ausgeschlossen ist, dass die Folgen des weiterhin andauernden rus­sischen Angriffskriegs bis Jahresende bewältigt sein werden, umfasst dies sowohl das Jahr 2022 als auch das Jahr 2023.

Diese außergewöhnliche Notsituation ist in erster Linie durch den russischen Angriffskrieg so­wie durch die folgende Energiekrise und Energiepreisentwicklung, durch Inflation und Entwick­lung der Fluchtbewegung verursacht, die eine Rezession zur Folge haben. Sie ist daher auf äußere Einflüsse zurückzuführen, die nicht der staatlichen Kontrolle unterliegen.

Die Notsituation beeinträchtigt die staatliche Finanzlage in Nordrhein-Westfalen sowohl auf der Einnahmen- als auch insbesondere auf der Ausgabenseite.

Die Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage ist auch erheblich, da der staatliche Finanz­bedarf zur Bewältigung der Notsituation gemessen an der Finanzkraft des Landes Nordrhein-Westfalen außerordentlich hoch ist. Die dargestellten massiven Einbrüche können nicht im laufenden Haushalt aufgefangen werden. Eine Umpriorisierung von bestehenden Ausgaben im Landeshaushalts ist angesichts der weiterhin notwendigen Maßnahmen zur Abmilderung der Folgen des russischen Angriffskriegs, der gesetzlich erforderlichen Leistungen und der hohen, kurzfristig nicht variierbaren Personalausgaben nicht möglich. Eine zyklische Ausga-benanpassung würde zudem dazu führen, dass der Staatskonsum sinkt, der Staat als Konsu­ment wegbricht und somit das Ausmaß des wirtschaftlichen Abschwungs und der Folgen der Energiekrise noch größer werden. In einer solchen Notsituation ist der Staat als Stabilitätsan­ker gefragt, der durch zusätzliche antizyklische Investitionen die Nachfrage steigert und so dazu beiträgt, die Krise zu überwinden. Um einem gegebenenfalls tieferen Abschwung der NRW-Wirtschaft entgegenzutreten, ist es notwendig, bereits jetzt Vorkehrungen zu treffen, um einer möglichen Unterdeckung von zwingend notwendigen Ausgaben entgegenzutreten.

Die bisherige Entwicklung der Steuereinnahmen bis Ende Oktober 2022 zeigt noch einen po­sitiven Trend zum Ergebnis des entsprechenden Vorjahreszeitraums. Es ist allerdings bereits jetzt ersichtlich, dass das Steuerergebnis des Monats November 2022 negativ im Vergleich zum Vorjahr ausfallen wird.

Die Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage erfasst jedoch nicht nur unmittelbare Auswir­kungen der außergewöhnlichen Notsituation auf die Finanzlage, es sind insbesondere auch diejenigen Finanzbedarfe einzubeziehen, die zur Beseitigung der aus einer Notsituation resul­tierenden Schäden und etwaigen vorbeugenden Maßnahmen entstehen.

Die nach der Datenlage notwendige Stabilisierung der nordrhein-westfälischen Volkswirtschaft erfordert, entsprechende Hilfsprogramme unverzüglich aufzulegen:

  • Diese Hilfsprogramme müssen einerseits bestehende Lücken der Bundeshilfspro­gramme der Strom- und Gaspreisbremse sowie der zusätzlichen Härtefallfonds schlie­ßen
  • Andererseits ist es erforderlich, Hilfen für Unternehmen zu leisten, damit diese die schwierige Situation im Winter bewältigen. Es gilt, drohende Produktionsverlagerungen in Länder mit niedrigeren Energiekosten zu verhindern. Dazu müssen kurzfristige Un­ternehmenshilfen umgesetzt werden.
  • Zudem ist es erforderlich, durch Maßnahmen die Auswirkungen des russischen An­griffskriegs auf die Ukraine für öffentliche Stellen und Institutionen der Daseinsvorsorge abzufedern und gegen noch zu erwartende Auswirkungen dieser Krisensituation zu wappnen.

Es gilt, über die hiermit zu erreichende Stabilisierung auch für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes die Krisensituation abzufedern und insbesondere für einkommensschwachen Haushalte die Auswirkungen der Energiekrise abzupuffern, um den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft nicht zu gefährden.

Die vom Bund den Ländern und Kommunen bereitgestellten Mittel für die Flüchtlinge unter anderen aus der Ukraine reichen bei weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken.

Die dargestellte Bedeutsamkeit der Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage besteht so­wohl für das Haushaltsjahr 2022 als auch für das Haushaltsjahr 2023. Für das Haushaltsjahr 2023 ergibt sich dies schon daraus, dass in diesem Jahr die Mehrzahl der notwendigen Maß­nahmen anfallen werden. Sie liegt aber auch für das Haushaltsjahr 2022 vor, da ein unverzüg­liches Handeln erforderlich ist, sodass ein Zuwarten bis zum Inkrafttreten des Haushaltsgeset­zes 2023 nicht verantwortet werden kann. Durch die sofortige Verfügbarmachung der Mittel sollen die extrem hohe Unsicherheit der Verbraucherinnen und Verbraucher und der Unter­nehmen sowie die bereits damit einhergehenden negativen Rückwirkungen auf die nordrhein-westfälische Wirtschaft deutlich reduziert werden.

II. Beschlussfassung

  1. Der Landtag beschließt:
  • Es liegt aus den vorgenannten Gründen eine außergewöhnliche Notsituation nach § 18 b Landeshaushaltsordnung (LHO) in Verbindung mit Art. 109 Abs. 3 S. 2, 2. Alter­native GG vor, die sich der Kontrolle des Staates entzieht und die die Finanzlage des Landes Nordrhein-Westfalen erheblich beeinträchtigt.
  • Zur Finanzierung der zur Bewältigung der Krisensituation in Folge des russischen An­griffskriegs in der Ukraine für das Land Nordrhein-Westfalen notwendigen Maßnahmen sollen über die Errichtung eines zweckgebundenen Sondervermögens Mittel in Höhe von bis zu 5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden.
  • Die Notsituation erfordert ein unverzügliches Handeln, sodass ein Zuwarten bis zum Inkrafttreten des Haushaltsgesetzes 2023 nicht verantwortet werden kann. Daher soll bereits mit dem Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2022 auf der Grundlage einer neuen Kreditermächtigung die entsprechende Dotierung des Sondervermögens si­chergestellt werden. Außerdem erfolgt eine entsprechende Kreditermächtigung im Haushalt des Jahres 2023. Die Voraussetzungen für die Aufnahme dieser Kredite ge­mäß § 18 b LHO i.V.m. Art. 109 Abs. 3 S. 2, 2. Alternative GG liegen vor.
  • Über eine gesetzlich festgelegte Zweckbindung wird sichergestellt, dass die Mittel aus­schließlich für die Bewältigung der außergewöhnlichen Notsituation i.S.d. § 18 b LHO i.V.m. Art. 109 Abs. 3 S. 2, 2. Alternative GG verwendet werden.
  • Die Tilgung der Kredite erfolgt innerhalb von 25 Jahren.